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Unser Verständnis von Daten

  • Jeder Mensch nimmt die Natur durch einen ‚persönlichen Filter‘ wahr, was Naturbeobachtungsdaten beeinflusst, (c) SplitShire/Pixabay
    Jeder Mensch nimmt die Natur durch einen ‚persönlichen Filter‘ wahr, was Naturbeobachtungsdaten beeinflusst, (c) SplitShire/Pixabay

Naturbeobachtungen beruhen in vielen Fällen auf Wahrnehmungen von Menschen. Meldungen von Naturbeobachtungen haben deshalb den Charakter von Zeugenaussagen. Diese sind potenziell mit zahlreichen „Ungenauigkeiten” unbekannten Ausmaßes behaftet. Niemand kann mit Sicherheit sagen, ob sie richtig oder falsch sind. Und das wirkt sich unmittelbar auf Naturbeobachtungsdaten aus. Bei NABU|naturgucker sind wir uns dessen bewusst und gehen mit dem komplexen Sachverhalt transparent um.

Wahrnehmung

Unter der Wahrnehmung versteht man bei Lebewesen den Prozess und das subjektive Ergebnis der Informationsgewinnung und der Verarbeitung von Reizen aus der Umwelt. Das geschieht durch unbewusstes (und beim Menschen zusätzlich manchmal durch bewusstes) Filtern und Zusammenführen von Teilinformationen zu subjektiv sinn­vollen Gesamteindrücken (nach Spektrum der Wissenschaft1).

Die Sinnesorgane nehmen dabei nur einen Teil der möglichen Reize auf. Zudem wird jede Wahrnehmung zunächst im sensorischen Speicher auf ihren Nutzen hin untersucht. Nur wenn sie relevant erscheint, gelangt sie ins Kurzzeitgedächtnis, wo sie weiterverarbeitet wird. Bei der Weiterverarbeitung werden diese Informationen in kleinere Einheiten zerlegt, getrennt verarbeitet (verstärkt, abgeschwächt, bewertet) und in verschiedenen Gehirnarealen wieder zusammengeführt. Müssen widersprüchliche Informationen verarbeitet werden, bevorzugt das Gehirn die wahrscheinlichste Interpretation durch Vergleich mit Erwartungen und bereits abgespeicherten (erlernten) Erfahrungen. Solche Erfahrungen sind Erinnerungen, die bei jedem Aufrufen automatisch „sinnvoll” vervollständigt und „korrigiert” wieder abgespeichert werden. Erinnerungen sind also keine dauerhaften Daten, sondern verändern sich.

Darstellung der kognitiven Prozesse bei einer Naturbeobachtung (aus einem → Vortrag von Gaby Schulemann-Maier auf der FörTaxCon2, nach einer Vorlage von Dr. Rüdiger Pohl)

Darstellung der kognitiven Prozesse bei einer Naturbeobachtung (aus einem Vortrag von Gaby Schulemann-Maier auf der FörTaxCon2, nach einer Vorlage von Dr. Rüdiger Pohl)

Die Prozesse sind hoch individuell sowohl für jeden Menschen als auch für jede Situation und können durch interne und externe Einflüsse (Krankheit, Störung, kognitive Wahrnehmungsverzerrungen …) maßgeblich beeinflusst werden.2 

Eine Zeugenaussage gibt deshalb nicht die objektive Wirklichkeit wieder, sondern lediglich eine wahrgenommene, im menschlichen Gehirn konstruierte und damit subjektive Realität; man könnte auch von einer kontrollierten Halluzination3 sprechen. Insofern kann eine solche Aussage weder falsifiziert noch als wahr/richtig oder unwahr/falsch in Bezug auf die Wirklichkeit bewertet werden. Eine Ausnahme ist der Fall einer bewussten Lüge/Manipulation, soweit diese feststellbar ist. 

Und der Umgang damit

Im wissenschaftlichen Umgang mit der Meldung einer Naturbeobachtung ist eine objektive Prüfung auf Richtigkeit deshalb nicht möglich. Dies gilt auch beim Vorhandensein von Belegbildern, denn diese unterliegen bei der Wahrnehmung denselben einschränkenden Einflüssen. Selbst DNA-Untersuchungen beziehen sich generell auf zuvor bestimmtes Vergleichsmaterial und sind deshalb ebenfalls potenziell mit Verzerrungen behaftet. Zudem ist das Ausmaß der jeweiligen Beeinflussungen nicht objektiv feststellbar.

Letztendlich ist es logisch nur möglich, eine Naturbeobachtung zu plausibilisieren. Dabei wird individuell bewertet, wie wahrscheinlich die Details erscheinen. Anhand möglichst objektiver, bevorzugt von menschlicher Wahrnehmung unabhängiger Faktoren wird versucht einzuschätzen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Beobachtung der objektiven Wirklichkeit entsprechen könnte. Zumeist ist eine solche Betrachtung für eine einzelne Beobachtung nur schwer möglich. Es ist sinnvoller, möglichst viele Beobachtungen zu benutzen. Maßgebliche Faktoren sind dabei unter anderem die Stichprobengröße und Repräsentativität. (Die Eigenschaften einer Stichprobe entsprechen den Eigenschaften der Gesamtheit).

Die Plausibilisierung sollte professionell, neutral abwägend durchgeführt werden. Im gesamten Vorgehen sollten Verzerrungen als negative Einflussfaktoren möglichst minimiert, zumindest aber umfassend berücksichtigt werden. Deshalb wurden auf Basis zahlreicher Untersuchungen für den juristischen Umgang mit Zeugenaussagen Handreichungen zum Vorgehen und zur Bewertung dieser Informationen entwickelt. Für den Umgang mit Naturbeobachtungen gibt es bislang keine solche Handreichung.
Bei Gericht geht man übrigens davon aus, dass aufgrund der oben geschilderten menschlichen Prozesse rund ein Viertel aller Zeugenaussagen unabsichtlich falsch sind4

Unser Vorgehen

Zentral im Umgang mit Meldungen von Naturbeobachtungen ist für uns die dauerhafte Dokumentation der Originaldaten. Solche Daten zu beeinflussen, beispielsweise durch Aufforderungen zur nachträglichen Löschung aufgrund einer eingeschätzten geringen Wahrscheinlichkeit, beeinträchtigt die Qualität einer Datensammlung maßgeblich. Nur wenn die Originaldaten möglichst unverändert vorliegen oder die vorgenommenen Änderungen detailliert dokumentiert werden, können Plausibilisierungen zu einem späteren Zeitpunkt wiederholt werden, beispielsweise auf Basis eines dann anderen Ausgangswissens oder einer anderen Grundhaltung des Plausibilisierenden. 

Wir unterscheiden beim Umgang mit Naturbeobachtungsdaten drei unterschiedliche Prozesse:

  • das Melden der Naturbeobachtungen
  • die Diskussion in der Gemeinschaft der Beobachtenden
  • die Plausibilisierung durch Datennutzende wie Wissenschaftler*innen oder Autor*innen

Das Melden der Naturbeobachtungen

Wir überlassen beim Melden den Beobachtenden die alleinige Hoheit. Alle Naturinteressierten können unabhängig von ihrem individuellen Kenntnisstand ihre Naturbeobachtungen melden und so an zentraler Stelle zusammentragen. Die dank dieser Naturbegeisterten gewonnene Datenmenge ist um ein Vielfaches größer als die Datensammlungen, die typischerweise bei professionellen Untersuchungen, die von hauptberuflich Forschenden durchgeführt werden, zu erwarten sind. Statistisch betrachtet spielt es in sehr großen Datenbeständen praktisch keine Rolle, wenn einzelne Beobachtungsmeldungen auf fehlerhaften Bestimmungen basieren, siehe dazu auch unser Beitrag über die → Auswirkungen von Fehlbestimmungen auf die Datenqualität. In besonderen Fällen (noch keine oder sehr wenige Meldungen dieser Art, phänologisch sehr ungewöhnlich etc.) geben wir entsprechende automatisierte Fachhinweise. Diese sind zurückhaltend, im Konjunktiv formuliert und können von Melder*innen übergangen werden, wenn jemand anderer Meinung ist. Deshalb können bei NABU|naturgucker auch Seepferdchen aus dem Bodensee gemeldet werden.

Diskussion in der Beobachtenden-Gemeinschaft

Für Bestimmungshilfe, Einschätzungen, Kritik und Lob stellen wir eine Kommentarfunktion an Beobachtungen, Bildern und Videos zur Verfügung, die von unseren Aktiven in großem Umfang genutzt wird. So verlaufen mögliche Diskussionen transparent, für jede*n einsehbar und nachvollziehbar.

Sollten Beobachter*innen danach zu dem Schluss kommen, möglicherweise doch etwas anderes wahrgenommen zu haben, als ursprünglich gemeldet, kann die betreffende Beobachtung von ihnen unbefristet bearbeitet werden. Eine solche Änderung bleibt aufgrund der Kommentare immer nachvollziehbar. Von Datenlöschungen raten wir dringend ab, um die Integrität des Datensatzes zu wahren. Trotzdem können Beobachtende aufgrund ihrer Verfahrenshoheit sehr wohl jederzeit eigene Daten löschen.

Plausibilisierung durch Datennutzende

Aus wissenschaftlichen Gründen empfehlen wir allen Datennutzenden, vor der Verwendung von Daten aus unserem Meldeportal eine ihren Ansprüchen genügende Plausibilisierung vorzunehmen. Dabei sollte der internationalen wissenschaftlichen Publikationspraxis gefolgt werden, in einem Methodikkapitel das Vorgehen und die Plausibilisierungkriterien darzulegen und die ausgewählten sowie die ausgeschlossenen Datensätze ggf. in einem Supplement vollständig offenzulegen.

Unser Fazit

Letztendlich gilt deshalb: Meldungen zu Naturbeobachtungen sind potenziell mit zahlreichen „Ungenauigkeiten” unbekannten Ausmaßes behaftete Zeugenaussagen. Niemand kann mit Sicherheit sagen, ob sie richtig oder falsch sind. Zudem: Zunächst unplausibel Erscheinendes könnte in Zukunft durchaus plausibel werden, beispielsweise wenn es sich um die Erstbeobachtung einer kommenden Entwicklung handelt.

Der Physik-Nobelpreisträger Dr. Richard Feynman5 hat dies wunderbar treffend auf den Punkt gebracht:

„Wissenschaftler können mit ständigem Zweifel leben und immer denken: „Vielleicht ist es so”, und sich entsprechend verhalten; dabei wissen sie die ganze Zeit, dass es NUR ein Vielleicht ist.”

Für Feynman ist ein solches Vielleicht deshalb KENNZEICHEN einer guten Wissenschaft.

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